Verstörend, erschreckend und völlig unverständlich ist aus heutiger Sicht die Forderung nach Straffreiheit von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Wie konnte, neben anderen, die grüne Partei ernsthaft vertreten, Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen könne auf Augenhöhe, einvernehmlich und ein “Verbrechen ohne Opfer” sein? Die Partei befindet sich seit zwei Jahren im Aufarbeitungsprozess dieses Kapitels der Parteigeschichte. Die Veranstaltung des Gunda-Werner-Instituts „Projekt Aufarbeitung – Die Grünen und ihr Umgang mit sexualisierter Gewalt“ lieferte einen Zwischenstand.
Zeitgeist und kritische Stimmen
Zur Frage nach dem “Warum”, wird der Zeitgeist ins Feld geführt. Teile der Wissenschaft, präsent und populär in den Medien, veröffentlichten: die Traumata Betroffener erfolgen durch gesellschaftliche Stigmatisierung und juristische Ahndung. Nicht durch gewaltfreie sexuelle Handlungen. Und die Grünen in ihrem Streben nach sexueller Befreihung, ihrer besonderen Empathie für Minderheiten, einer antirepressiven Grundeinstellung und einer teils naiven Wissenschaftsgläubigkeit waren für pädosexuelle Forderungen offen. Ein Erklärungsversuch, keine Rechtfertigung.
Anschluss finden konnten die Forderungen vielfach bei schwulen Bewegungen in der Partei. Den § 175 streichen, war das primäre Ziel. Doch wer 175 sagte, musste damals scheinbar auch 174 und 176 sagen, sich also auch für die Entkriminalisierung des Missbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen einsetzen. Die Solidarität mit den Pädos entstand durch eine gemeinsame Identifikation als Opfer des staatlichen Repressionsaparates. Der die eigene Sexualität kriminalisierte. Und die Jugendzeit um ein Ausleben von Sexualität gebracht hatte.
Aber was ist mit kritischen Stimmen? Wie von Frauen* und Feminist_innen? Warum wurden sie erst so spät gehört? Darüber besteht Uneinigkeit: Als prüde, asexuell und frigide verschrien wurden sie mundtot gemacht, um bestimmte Kritik von vorne herein abzublocken. Das ist eine Auffassung. Sie waren selbst noch dabei, Konzepte und Begriffe zu entwickeln. Es fehlten Daten und der Erkenntnisstand war rudimentär, ist eine andere. Es wird im Gedächtnis gekramt: War da nicht der Artikel von Alice Schwarzer 1978/79 in der Emma? Und Anfang der 80er: internationale Studien zur “Vulnerabilität des Kindes”. Die zeigten: jedes vierte Mädchen. Und jeder siebte Junge ist betroffen. Erste Publikationen von Wildwasser: Frauen, die klare Worte finden gegen sexuellen Missbrauch. Barbara Kavemann mit der ersten Begleitstudie eines Frauenhauses. Und in den grünen Programmen: da finden sich auch Forderungen zum Schutz des Kindes. Widersprüchliche Positionen z.T. im selben Parteiprogramm. Kritik hat es folglich zur Zeit der Forderungen auch immer schon gegeben.
Ungeklärt bleibt: Die Frauen und Feministinnen gegen die männlichen Täter? War es tatsächlich so einfach binär? Vereinzelt scheint es auch Frauengruppen, wie die "Kanalratten" gegeben zu haben, die meinten: wir sind auch pädophil. Eine systematische Recherche hierzu gibt es bisher aber noch nicht.
Die Aufarbeitung beginnt spät – und dauert an
Und natürlich steht die Frage im Raum: Warum begann die Aufarbeitung der Partei erst so spät? Warum nicht nach Erkenntnis des eigenen Irrtums? Oder warum wird im Jahr 2011 die Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch in anderen Institutionen nicht zum Anlass genommen, um mit der eigenen Geschichte aufzuräumen? Ja, früher wäre nötig gewesen, wird eingeräumt. Und ein Publikumsbeitrag ergänzt die Vermutung: Vielleicht spielt auch die Angst eine Rolle, die sexuelle Befreiung und deren Errungenschaften mit in Frage stellen zu müssen. Einen Schritt zurück machen zu müssen, hinsichtlich aktueller Forderungen nach Akzeptanz sexueller Vielfalt. Die Gefahr, dass hier keine Differenzierung vorgenommen wird.
Die Aufarbeitung der Grünen Partei ist nicht vorbei. Das wird ganz klar. Die Aufarbeitung im Landesverband Berlin gibt Grund zur Annahme, dass die Partei auch “Ort der Tat” war. Es gab Täter mit Grünem Parteibuch im Berliner Landesverband. Eine Reihe von Tätern und vermutlich tausende Betroffene – eine grausame Erkenntnis. Genaueres und der Umgang der Partei damit will der Landesverband bis Mai veröffentlichen.
Was kann und muss die Partei für sich mitnehmen? Sich nie wieder blind auf etwas einzulassen, sondern Mut zum Konflikt zu haben. Und nicht wegzuschauen.
“Projekt Aufarbeitung” trifft es nicht, es ist wohl eher ein "Prozess". Denn der ist bis auf Weiteres nicht abgeschlossen.
Was tun gegen sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt?
Tausende Kinder und Jugendliche sind in diesem Moment von sexuellem Missbrauch in Deutschland betroffen. Jede_r Achte im Durchschnitt. Was kann und muss getan werden?
Auf juristischer Ebene ist wichtig, dass Jugendliche von 14 bis 18 allein einen Strafantrag stellen können und einen eigenständigen Beratungsanspruch haben. Und dies nicht – wie derzeit der Fall – von Sorgeberechtigten abhängt. Der Wille des_der Jugendlichen allein muss ausschlaggebend sein. Eine Verlängerung von Straffristen wird ambivalent diskutiert: Prinzipiell ist eine späte Anerkennung wichtig; auch da Betroffene sich häufig erst viele Jahre später äußern (können). Doch wecken sie nicht unrealistische Hoffnungen, da eine späte Verurteilung durch erschwerte Beweisfindung unwahrscheinlich ist? Was ist mit der Gefahr von Retraumatisierung durch einen späten Prozess? Darüber müssen Betroffene ausreichend informiert werden.
Ein zentrales Problem ist die Unterfinanzierung von Hilfestrukturen: eine gleichbleibende Ausstattung bei steigendem Beratungsbedarf darf es nicht geben. Auch fehlen in ganzen Bundesländern Beratungsstellen für spezifische Zielgruppen, wie Transmenschen, Intersexuelle oder Frauen* mit Behinderungen.
Dies hat auch Auswirkungen auf Präventionsarbeit: Es gibt Schutzkonzepte bereits, wie Risikoanalysen und Empfehlungen für Einrichtungen, in denen Kinder Erwachsenen anvertraut werden. Doch sie sind wenig verbreitet, da die Beratungsstellen als Kompetenzzentren finanziell zu gering ausgestattet sind, um dies zu leisten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf!
Dazu muss das Problem als wichtige gesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden. Und als dauerhafte Pflichtaufgabe, die eben nicht von der Haushaltslage abhängt. Und die nicht auf Ministerien für Kinder und Jugend finanziell abgeschoben wird. Es braucht bundeseinheitliche Standards und gesetzliche Verbindlichkeit. Die Grünen sind insbesondere da gefragt, diese politische Prioritätensetzung in politisches Handeln umzusetzen, wo sie selbst in politischer Verantwortung stehen. So beteiligen sich beispielsweise auf Länderebene bisher weder Baden-Württemberg noch Nordrhein-Westfalen am ergänzenden Hilfsfonds für Missbrauchsopfer im familiären Umfeld.
Und es geht auch um ein gesellschaftliches Klima: Des Hinhörens. Des keine-Schuld-Zuweisens. Vielmehr muss klar sein: Das verletzt deine Rechte. Und die sind wichtig. Es braucht eine Gesellschaft, die zuhören will. Und eine Politik, die handelt.
Die Videomitschnitte
Die Frage nach dem Warum? und nach den Konsequenzen
Projekt Aufarbeitung - Die Grünen und ihr Umgang mit sexualisierter Gewalt an Kindern - Teil 1 - Heinrich-Böll-Stiftung
Direkt auf YouTube ansehenBesonders jüngere Menschen fragen: Wie konnte es jemals zu diesen aus heutiger Sicht völlig abwegigen pädosexuellen Forderungen kommen? Warum waren die Grünen offen dafür? Weshalb stand die Perspektive der Betroffenen nicht im Zentrum? Welche feministischen und frauenpolitischen Gegendiskurse gab es?
Und: Wie hat die Grüne Partei das Thema aufgearbeitet und welche Konsequenzen zieht sie daraus?
weitere Informationen zum Programm
Historische Verantwortung nutzen - was ist zu tun?
Die Grünen und ihr Umgang mit sexualisierter Gewalt an Kindern (2) - Heinrich-Böll-Stiftung
Direkt auf YouTube ansehenPolitik kann gestalten und gesellschaftliche Räume und Strukturen beeinflussen. Daher kommen im zweiten Panel Expert_innen aus der praktischen Arbeit mit Betroffenen zu Wort: Wie funktionieren Hilfestrukturen für Betroffene sexualisierter Gewalt und Angebote präventiver Arbeit in Deutschland? Wo gibt es Lücken und weitere Bedarfe? Ist die Gesetzeslage ausreichend?
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